Füürimdorf, den 4. März 2020

Liebe Tante Anna, lieber Onkel Franz,

Endlich kommen wir dazu, euch wieder einmal ein paar Zeilen aus der Schweiz zu schreiben.

Zuerst einmal vielen Dank für euren Brief und die interessanten Beilagen. Vor allem die Zeitungsausschnitte haben uns sehr gefreut. Es ist ja schon verrückt, wie sich die Welt in den letzten Jahren verändert hat.

Wie Ihr wisst, hat sich auch hier einiges getan, seit ihr ausgewandert seid. Es ist nicht leichter geworden, aber insgesamt kommen wir recht gut über die Runden, und auch gesundheitlich sind wir zufrieden.

Heute früh bin ich wie immer vom ersten Ruf des Muezzins erwacht, der über Lautsprecher von der benachbarten Moschee in mein Ohr drang. Ich habe mich längst daran gewöhnt. Früher war das mal eine Kirche gewesen, aber sie ist schon vor einigen Jahren zur Moschee umfunktioniert worden, nachdem es der islamischen Gemeinde in unserem Viertel in ihrer alten Moschee zu eng wurde. Die Muslime sind jetzt auch in der Schweiz deutlich in der Mehrheit, und die verbliebenen Christen hatten keinen Einspruch mehr gewagt. Unser Gemeindepräsident, Herr Mehmet Özal, meinte, es sei längst an der Zeit, der einzig wahren Religion mehr Platz zu verschaffen. Da hat er natürlich recht, und auch die wenigen Schweizer, die noch in unserer Gegend wohnen, schicken ihre Kinder jetzt alle in die Koranschule, damit sie es leichter haben, sich zu integrieren. In den Schulen wird überwiegend in Türkisch unterrichtet, zum Teil auch in Arabisch, je nach der Mehrheit. Die Schweizer Kinder müssen sich jetzt eben anpassen, und Schweizer Kinder haben ja im allgemeinen wenig Mühe mit dem Erlernen von Fremdsprachen. Alex, unser Jüngster, ist inzwischen auch schon 10-jährig geworden, er spricht zu Hause meist gebrochen Deutsch, und er fällt dabei immer wieder ins Türkische. Da wir das nicht können, schämen wir uns. Alex ist in seiner Klasse das einzige Kind mit Schweizer Eltern. Er hat am Anfang einige Probleme gehabt, aber jetzt gibt er sich wirklich Mühe und versucht sich anzupassen, so gut er kann.

Wenn ich hier aus dem Fenster auf die Strasse schaue, sieht es im Moment wieder mal ziemlich schlimm aus. Wie vielerorts haben sich serbische und kosovarisch-albanische Jugendliche auch in unserem Dorf in den letzten Tagen erneut schwere Strassenschlachten geliefert. Ich bin aber nicht sicher, eventuell waren es türkische und kurdische, und es waren auch viele Araber und Afrikaner dabei. Die Toten und Verletzten sind bereits eingesammelt und weggeschafft worden, aber die Barrikaden sind noch nicht weggeräumt und rauchen noch, es stinkt bis in unsere Wohnung. Seit heute Morgen ist jetzt die Kehrichtabfuhr am Aufräumen. Und zum Glück sind unsere Scheiben diesmal heil geblieben. Übrigens, ihr erinnert euch sicher noch an Sepp Moser, den früheren Direktor der Werkzeugmaschinenfabrik, und an Maja Bussinger, die Aerztin aus unserem Dorf. Ich habe sie heute unten auf der Strasse gesehen, beide haben mir zugewinkt. Die können von Glück reden, nach langem Suchen haben sie endlich wieder eine feste Stelle gefunden, sie arbeiten seit einiger Zeit bei der Kehrichtabfuhr.

Insgesamt muss man zugeben, dass es viel besser geworden ist, seit sich die Lage im Nahen Osten normalisiert hat. Die Folgen wegen der atomaren Verseuchung werden zwar noch lange spürbar sein, wir müssen uns auch hier zweimal wöchentlich mehrere Stunden behandeln lassen. Aber seit der Iran den Staat Israel mit einem Schlag ausgelöscht hat, sind wenigstens die ewigen Streitereien vorbei. Die USA verhalten sich jetzt auch viel ruhiger, seit die Vertreter der Muslimischen Parteien dort ebenfalls in die Regierung eingetreten sind. Der Anteil der muslimischen Bevölkerung  hat halt überall deutlich zugenommen, nicht nur in der Schweiz.

Ich wollte heute Mittag die Nachrichten im Radio einschalten, fand aber erst nach langem Suchen einen deutschsprachigen Sender. Seit die Frequenzen nach dem Bevölkerungsanteil vergeben werden, müssen wir uns eben umstellen. Der Nachrichtensprecher sagte, dass das Parlament auf Druck der Fundamentalistischen Partei des Einzig Richtigen Weges auf Mitte Jahr für alle Frauen das Kopftuchobligatorium einführen wird, und auf anfangs nächstes Jahr den Schleierzwang. Meine Frau trägt schon seit längerer Zeit immer das Kopftuch, um weniger aufzufallen, manchmal auch den Schleier. So wird sie jetzt nicht mehr gleich als Schweizerin erkannt und auch viel freundlicher behandelt.

Also man muss schon sagen, man hat wirklich viel getan, um den Schweizern die multikulturelle Verständigung zu erleichtern. Wie ihr wisst, konnte schon vor einigen Jahren das unselige Antirassismusgesetz abgeschafft werden. Es war ja tatsächlich ein richtiger Schandfleck, dass es früher so viele Schweizer gab, die ihre Meinung einfach nach Lust und Laune geäussert haben. Stattdessen hat das Parlament in Bern vor zwei Jahren mit einstimmigem Beschluss den "Tag der Schweizer Schande“ eingeführt, der an die frühere Intoleranz der Schweizer erinnert, insbesondere an die damalige Ausländerfeindlichkeit. Gleichzeitig ist auch die "Reuespende" mit grosser Mehrheit beschlossen worden, und inzwischen wird bereits ein Drittel aller Steuereinnahmen der Schweiz direkt an die Länder überwiesen, die das verlangt haben. Am meisten bekommen die Staaten im Balkan, die Türkei und die afrikanischen Länder. Ich finde, man muss auch das Positive hervorheben.

Letzte Woche war bei uns wieder mal eine Gemeindeversammlung. Es gab auch ein paar Anträge von Schweizern. Eine kleine Gruppe hatte sich gegen die muslimischen Gebete an der Versammlung ausgesprochen. Und ein älterer Mann hat sogar dagegen protestiert, dass vor einigen Wochen eine Frau, die vom Islam zum Christentum konvertiert ist, hinter dem Schulhaus gesteinigt worden ist. Herr Mehmet Özal, unser Gemeindepräsident, war über die Kritik an der Versammlung sehr zornig und hat dazu einige Suren aus dem Koran zitiert. Der Gemeindeschreiber hat dann am Schluss allen Männern noch ein Blatt mit ein paar wichtigen Koran-Zitaten mitgegeben, die wir zuhause nochmals sorgfältig gelesen haben:
«...dies ist das Buch, in dem kein Zweifel ist, Führung für die Frommen...» (2,2)
„Die Frauen haben, was die Behandlung durch die Männer betrifft, dasselbe zu beanspruchen, wozu sie verpflichtet sind, und zwar in rechtlicher Weise. Und die Männer stehen eine Stufe über ihnen.“ (2,228)
„Die Männer stehen über den Frauen, weil Gott sie ausgezeichnet hat und wegen der Ausgaben, die sie von ihrem Vermögen gemacht haben. Darum sind tugendhafte Frauen die Gehorsamen und diejenigen, die ihrer Gatten Geheimnisse mit Allahs Hilfe wahren. Und jene, deren Widerspenstigkeit ihr befürchtet: ermahnt sie, meidet sie im Ehebett und schlagt sie! Wenn sie euch dann gehorchen, unternehmt nichts gegen sie. Wahrlich, Allah ist Erhaben und Groß." (4,34)
«Manche von uns unterwerfen sich und werden Muslime, andere weichen ab. Die sich ergeben und zum Islam bekennen, streben nach dem rechten Weg. Die Abweichenden, sie sind Brennholz für die Hölle. Wenn sie aber den geraden Weg einschlagen, dann tränken wir sie mit reichlichem Wasser.» (72,14–16)
«Diejenigen, die ungläubig sind, diese bleiben auf ewig in der Hölle. Sie sind das Schlechteste der Schöpfung. Und diejenigen, die glauben und gute Werke tun, diese sind das Beste der Schöpfung.» (98,6 f)
«Die Ungläubigen sind die Partei des Teufels. Ist es nicht so, dass die Parteigänger des Teufels die Verlierer sind? Die Gläubigen sind die Partei Gottes. Ist es nicht so, dass die Parteigänger Gottes die Gewinner sind?» (58,19/22)
«Bekämpft die Ungläubigen, bis es keine Verführung zum Unglauben mehr gibt und alle Religion auf Gott gerichtet ist.» (8,39)
«Der Lohn derer, die gegen Gott und seinen Gesandten in den Krieg ziehen und Verderbnis im Land verbreiten, ist, dass sie hingemetzelt werden oder gekreuzigt werden oder ihnen die Hände und Füsse überkreuz abgeschnitten werden oder sie aus dem Land verjagt werden.» (5,33)
«Wenn sie sich abkehren, dann ergreift sie und tötet sie, wo immer ihr sie findet.» (4,89)
«Wenn sie sich nicht zurückziehen von euch, noch euch Frieden bieten noch ihre Hände zügeln, ergreift sie und tötet sie, wo ihr sie trefft, und über diese haben wir euch klare Gewalt gegeben.» (4,91)
«Bekämpft diejenigen, die nicht an Gott und nicht an den Jüngsten Tag glauben und nicht als verboten anerkennen, was Gott und sein Gesandter verboten haben, und die nicht an die Religion der Wahrheit glauben.» (9:29)
«Bekämpft sie! Gott wird sie durch eure Hand bestrafen und demütigen!» (9,14)
«Verflucht sind sie! Wo immer man auf sie stösst, sollen sie ergriffen und mit gewaltiger Metzelei gemetzelt werden.» (33,61)

Am Schluss der Gemeindeversammlung habe wir uns alle gen Mekka niedergekniet, sogar der Mann, der mit seinem dummen Protest unseren Gemeindepräsidenten herausgefordert hat. Beim Abschied habe ich den Eindruck gehabt, dass der Tonfall wieder etwas versöhnlicher geworden ist. Ich glaube, wir dürfen die Hoffnung auf ein gutes Zusammenleben nie aufgeben.

Meine Frau hat nun endlich wieder Arbeit gefunden, als Aushilfe in einem türkischen Restaurant. Da Ausländer bei der Arbeitsvergabe vorrangig behandelt werden, ist das ein grosses Glück. Ich muss nicht mehr zum Arbeitsamt. Mein Berater, Herr Hassan Mufticic, hat gesagt, als Schweizer sei ich praktisch nicht mehr vermittelbar. Er hat mir aber einen Sprachkurs, für Türkisch und Arabisch. Ich habe natürlich dankbar zugestimmt, für Schweizer ist es zwar kostenpflichtig und ziemlich teuer, aber so eine Chance bekommt man nicht alle Tage.

Jetzt haben wir aber ein neues Problem. Mein Vermieter, Herr Ahmed Jassir Al-Chameini, hat mir gestern mitgeteilt, dass er die Wohnung einem seiner Brüder und dessen Familie versprochen hat und dass wir uns möglichst rasch nach etwas anderem umsehen müssen. Ich wollte zuerst protestieren, aber Herr Ahmed Jassir Al-Chameini hat mich gleich ausgelacht und gesagt, er habe sehr gute Beziehungen zu den örtlichen Behörden. Also müssen wir jetzt raus, und es wird schwierig sein, eine Wohnung zu finden. Besonders schwer fällt uns der Abschied aus unserer Gemeinde jedoch nicht. Wahrscheinlich werden wir jetzt, wie viele unserer alten Bekannten und Nachbarn, ebenfalls in die anatolische Steppe auswandern. Die türkische Regierung hat dort allen Deutschsprachigen grosszügigerweise ein Stück Land zugewiesen, eine Art Reservat. Es soll dort sehr eng sein, aber wir sind unter uns, können unsere Sprache und Kultur pflegen und über alte Geschichten plaudern.

Gestern hat mich meine Frau daran erinnert, dass 1315, also vor etwa 700 Jahren, die Schlacht am Morgarten gewesen ist. Ganz unter uns gesagt: Ganz im geheimen denke ich manchmal, dass es besser gewesen wäre, wenn man die Volksinitiative angenommen hätte, die anno 2009 knapp abgelehnt worden war; die Initianten hatten ja damals verlangt, dass Muslime ihre Einbürgerungsgesuche ab sofort in der Mitte der Eigernordwand hätten einreichen müssen. Aber dafür ist es jetzt natürlich zu spät.

Soviel für heute. Irgendwie werden wir es schon schaffen, auch in der anatolischen Steppe.

Mit herzlichen Grüssen !
Euer Neffe Kari & Familie

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